100 Jahre Caligari

Gemeinsam mit Marie Dudzik (Murnau-Filmtheater Wiesbaden) und vielen begeisterten Besucher*innen feierten wir den 100. Geburtstag des expressionistischen Meisterwerks von Robert Wiene.


Trotz eines plötzlichen Wintereinbruchs fanden sich am vergangenen Donnerstag (27.2.) rund 40 Besucher*innen im angenehm warmen Saal des Prototyp ein, um den Vorträgen von Marco Rasch (Zellkultur) und Marie Dudzik (Murnau-Filmtheater) zu lauschen. 

Darin ging es sowohl um den historischen,politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Zeit, in der der "Dr. Caligari" erschein, als auch um den Film selbst, seine Entstehung sowie die Personen vor und hinter der Kamera.

Den Film "Das Cabinet des Dr. Caligari" gab es danach natürlich auch zu sehen - und zwar in der aufwändig digital restaurierten Fassung, die von den Zuschauer*innen mit begeistertem Applaus quittiert wurde.

Wir freuen uns bereits auf 2022, dann nämlich können wir den 100. Geburtstag von Friedrich Wilmeln Murnaus "Nosferatu" feiern.

 

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Der Begrüßungsvortrag von Marco Rasch im Wortlaut:

"Hallo und Herzlich Willkommen!

Schön, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind. Mein Name ist Marco Rasch und ich begrüße Sie alle sehr herzlich im Namen der Zellkultur und des Prototyp, den heutigen Veranstaltern. Wir sind hier zwar nicht im Marmorhaus - dem Ort der Weltpremiere des "Dr. Caligari" -, aber wir haben es uns hier gemütlich - und hoffentlich auch feierlich genug – für einen runden Geburtstag gemacht. Es ist schließlich ja nicht irgendein runder Geburtstag, sondern ein 100.!

Und dann ist es auch noch der 100. Geburtstag eines der bedeutendsten – nicht nur Stummfilme – sondern Filme – nicht nur der Weimarer Republik oder allgemein Deutschlands – sondern der wahrscheinlich sogar der gesamten Filmgeschichte.

"Das Cabinet des Dr. Caligari" ist zweifelsohne ein ganz besonderer Film. Wir freuen uns wirklich ungemein, dass wir die Möglichkeit haben, ihn heute hier zu zeigen und mit Ihnen allen gemeinsam seinen Geburtstag zu feiern.

Ein großes Danke muss ich hier zunächst richten an das Kulturamt Gießen und den AStA Gießen für ihre freundliche Unterstützung, ohne die der heutige Abend in dieser Form nicht möglich wäre. Danke auch an die Murnau Stiftung, die uns die Genehmigung zur Aufführung gegeben hat und natürlich für den freundlichen Kontakt im Vorfeld.

Besonders freuen wir uns außerdem, dass wir heute Marie Dudzik bei uns begrüßen dürfen. Frau Dudzik ist Filmwissenschaftlerin und zuständig für die Programmplanung des Murnau Filmtheaters in Wiesbaden, das im vergangenen Jahr bereits zum achten Mal mit dem Hessischen Kinokulturpreis ausgezeichnet wurde. Frau Dudzik wird uns gleich "Das Cabinet des Dr. Caligari" noch einmal genauer vorstellen.

Vorher möchte ich Ihnen aber noch ein wenig über das Jahr 1920, dem Erscheinungsjahr des "Dr. Caligari", und seine gesellschaftlichen und politischen Ereignisse, erzählen. Es ist nämlich, denke ich, sehr wichtig – und für das Verständnis des Films auch sehr hilfreich – ihn unter anderem in diesem Kontext zu betrachten.
 

Das Jahr 1920 war ein durchaus turbulentes Jahr. Der Erste Weltkrieg, die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", war gerade erst seit zwei Jahren zu Ende. Während dieser in seinen letzten Zügen lag, brach außerdem eine tödliche Pandemie aus, die Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 weltweit zwischen 25 und 50 Millionen Tode forderte (und damit sogar noch mehr als der Krieg). Die noch sehr junge, erste Deutsche Republik war vor allem gebeutelt durch eine Hyperinflation, die viele Menschen – und auch den Staat – an den Rand des Ruins brachte. Dies spielte vor allem den Republikgegnern – militanten Nationalisten und Faschisten – in die Karten.

Im Folgenden möchte ich Ihnen jetzt stichpunktartig einige der wichtigsten Ereignisse des Jahres 1920 nennen. Betrachten Sie es als eine kleine Zeitreise:

  • Am 10. Januar trat der Versailler Vertrag in Kraft. Der Erste Weltkrieg war damit auch offiziell zu Ende.

  • Am 13. Januar kam es bei Protesten gegen die Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes zu einem Blutbad: über 40 Demonstrant*innen wurden erschossen, über 100 verwundet. Es handelt sich damit um die opferreichste Demonstration der deutschen Geschichte.

  • Am 13. März kommt es zum so genannten Kapp-Putsch, einem Putschversuch republikfeindlicher Kräfte der Reichswehr um General Walter von Lüttwitz, in dessen Zuge Angehörige der Reichsregierung aus Berlin flüchteten. Er scheitert und endet am 17. März.

  • Als Reaktion auf den Kapp-Putsch kommt es am 15. März zum bis dato größten Generalstreik der deutschen Geschichte. Der daraus resultierende Ruhraufstand wird von der Regierung mit Hilfe der Reichswehr, darunter Truppen die vorher den Kapp-Putsch unterstützten, am 2. April niedergeschlagen. Deutschland steht kurzzeitig am Rande eines Bürgerkriegs. Über 2.000 Menschen verlieren ihr Leben.

  • Am 6. Juni finden die ersten Reichstagswahlen statt. Starke Zugewinne für die USPD, aber vor allem für die Rechtsparteien wie DNVP und DVP.

  • Am 1. Juli wird der Freistaat Coburg Teil des Freistaats Bayern. Dem geht die erste demokratische Volksabstimmung auf deutschem Boden voraus.

  • Am 16. Juli wird die k.u.k. Doppelmonarchie formal aufgelöst und Österreich zur Republik.

  • Am 5. August beschließt der Reichstag des Entwaffnungsgesetz und kommt damit einer Verpflichtung aus dem Versailler Vertrag nach.

  • Am 1. Oktober tritt das Groß-Berlin-Gesetz in Kraft und Berlin wird plötzlich zu einer 4-Millionen-Metropole. Eine Einwohnerzahl, die die Stadt bis heute nicht wieder erreicht hat.

  • Springen wir kurz über den großen Teich in die USA, dort tritt nämlich nicht nur am 15. Januar der 18. Zusatzartikel zur Verfassung in Kraft, der das Zeitalter der Prohibition einläutet, sondern auch am 26. August der 19. Zusatzartikel, der Frauen das Wahlrecht gibt (in Deutschland ist dies schon 2 Jahre vorher der Fall).

Zwei wichtige Ereignisse habe ich jetzt bewusst hintenan gestellt, nämlich:

  • Am 27. Februar (bzw. am 26. Februar, dem Tag der offiziellen Pressevorführung) feiert "Das Cabinet des Dr. Caligari" im Marmorhaus in Berlin seine Weltpremiere

  • Wenige Tage vorher, am 24. Februar, wird in München die NSDAP gegründet

 

Warum ist dieses letztgenannte Ereignis so wichtig für den Kontext des "Dr. Caligari"?

Siegfried Krakauer schreibt in seinem 1947 im Exil entstandenen Werk "Von Caligari zu Hitler" (der Titel verrät es schon fast), dass das Kino der Weimarer Republik, im Speziellen "Das Cabinet des Dr. Caligari", die späteren Ereignisse unbewusst vorhersah. Als Literaturwissenschaftlicher könnte ich sie jetzt mit meiner Analyse und Interpretation quälen – keine Angst, das werde ich nicht tun. Sie werden den Film ja schließlich gleich selbst sehen. Außerdem möchte ich Frau Dudzik nichts vorweg greifen, sie kann mit Sicherheit wesentlich besser drüber reden.

Was ich jedoch noch ganz kurz erwähnen möchte, das sind die beiden Hauptdarsteller des "Dr. Caligari": Werner Krauß und Conrad Veidt. Diese beiden können – oder vielmehr sollten – im Kontext des Nationalsozialismus betrachtet werden.

Werner Krauß, der den Dr. Caligari spielt, war der wohl größte Star des deutschen Stummfilms seiner Zeit. Und ohne Zweifel war er, davon können Sie sich gleich selbst überzeugen, ein überragender Schauspieler. Die andere Wahrheit ist jedoch, Werner Krauß war ein glühender Antisemit und später auch ein überzeugter Nazi – im Mindesten auf jeden Fall ein Kollaborateur. 1934 wurde er zum Staatsschauspieler, später von Goebbels persönlich zum stellvertretenden Präsidenten der Reichsschauspielkammer ernannt. 1944 wurde er dann sogar auf die so genannte Gottbegnadeten-Liste aufgenommen, die ihn, so wie ein wenig mehr als 1.000 weitere Künstler*innen, die dem nationalsozialistischen Regime als besonders wichtig erschienen, vor dem Kriegsdienst bewahrte. Besonders makaber sticht seine Beteiligung am antisemitischen Hetzfilm "Jud Süß" von Veit Harlan hervor. Darin spielte er gleich sechs Rollen, allesamt antisemitische Karikaturen, die ihm – verständlicherweise – nach dem Krieg ein zeitweiliges Berufsverbot einbrachte und ihn zu einer mehr als umstrittenen Person machte.

Conrad Veidt, der den Schlafwandler Cesare spielt, galt hingegen als Gegner des Nationalsozialismus und war ab 1933 mit einer Jüdin verheiratet. Aufgrund seiner Wichtigkeit für den deutschen Film, versprach Goebbels ihm deshalb sogar, seiner Frau einen Ariernachweis auszustellen. Veidt zog es jedoch vor zu emigrieren und ging zunächst nach Großbritannien, wo er sogar die Staatsbürgerschaft annahm. Große Erfolge feierte er unter anderem mit "Der Spion in Schwarz" und "Der Dieb von Bagdad". Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging er in die USA und warb für deren Kriegseintritt. Einen Großteil seiner Gagen spendete er an die britische Armee zu Kriegszwecken. Seine wohl bekannteste Rolle, gleichzeitig auch eine seiner letzten – denn 1943 starb er an den Folgen eines Herzinfarkts -, hatte Conrad Veidt als Major Strasser in "Casablanca".

Neben all diesen politischen und gesellschaftlichen Verflechtungen ist "Das Cabinet des Dr. Caligari" aber vor allem eins: Der Moment, in dem die Kunst endgültig Einzug in das damals immer noch relativ neue Medium Film gehalten hat.

Darüber wird uns unser heutiger Gast aber gleich mehr erzählen. Ich freue mich jetzt, das Wort an Marie Dudzik zu überreichen und hoffe, Sie sind schon genau so gespannt auf ihren Vortrag, wie ich. Danach zeigen wir den "Dr. Caligari" in der digital restaurierten Fassung. Darauf können Sie sich auch schon freuen.

Bitte begrüßen Sie mit mir gemeinsam recht herzlich Marie Dudzik vom Murnau Filmtheater."